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ProPhil_15_03

53-2015 Rubrik: Zur Diskussion „Differenziertes Schulwesen: Es gibt keine Sackgassen“ von Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL) In Deutschland geht mal wieder die abgehobene Vision von der einen, gleichen und dann angeblich gerechten Schule um. Wiewohl Einheitsschule/Gesamtschule in Deutschland Jahrzehnte durchschlagender Erfolglosigkeit hinter sich hat, wird sie unter neuem Namen (Gemeinschaftsschule) reanimiert: in Niedersachsen, Baden-Württemberg, NRW, Thüringen, Schleswig-Holstein … 1. Schule ist aber keine Institution zur Her- stellung von Gleichheit, sondern zur För- derung von Verschiedenheit und Indivi- dualität. Gewiss ist das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit nicht aufhebbar. Deshalb gilt, was Goethe meinte: „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane“. Es gibt also kein Zugleich. Man erinnere sich in diesem Zu- sammenhang an Alexis de Toqueville (1835) und dessen Wort: Freiheit erliege gern der Gleichheit, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden müsse und weil Gleichheit ihre Genüsse von selbst darbiete. (Darauf ersetzen visionäre Egalisierer!) Freiheit oder Gleichheit? Bezogen auf Bildung lautet die Frage: Soll ein Schulwesen am Prinzip Freiheit oder am Prinzip Gleichheit orientiert sein? Gewiss doch an der Freiheit! Denn: Die „conditio humana“ kennt keine Gleich- heit. An der Unterschiedlichkeit und an der Viel- falt von Menschen ändern keine noch so mora- lisierende egalitäre Zivilreligion, kein Schulsystem und auch kein noch so gestalteter Unterricht et- was. Es ist nun einmal das unüberwindbare Di- lemma des pädagogischen Egalitarismus: Egali- täre Schulpolitik erzielt vermeintliche Gleichheit allenfalls durch Absenkung des Anspruchsniveaus. Wer aber die Ansprüche senkt, der bindet gerade junge Menschen aus schwierigeren Milieus in ihren „restringierten Codes“ fest. Selbst ein hochindivi- dualisierender Unterricht zementiert Unterschiede. Die Lernforscherin Elsbeth Stern schrieb dazu: „Je besser der Unterricht ist, je mehr wir die Schü- ler ihren individuellen Möglichkeiten entsprechend fördern, desto mehr schlagen die Gene durch – und die sind nun einmal ungleich verteilt.“ Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit. Vielmehr ist nichts so ungerecht wie die gleiche Behandlung Ungleicher. Mit „Selektion“ in dem von gewissen Leuten intendierten Sinn hat dies nichts zu tun. „Selektion“ ist leider zum demago- gischen Kampfbegriff geworden. Dieser Begriff soll ganz offenbar gezielt dunkle Kapitel deutscher Ge- schichte assoziieren lassen. Das ist schäbig, denn hier wird ein millionenfaches Leid der Opfer des NS-Terrors für billige Zwecke instrumentalisiert. Außerdem: Die Prinzipien Leistung und Auslese sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Zudem ist Auslese notwendige Voraussetzung für individuelle Förderung. Die antithetische Formel „Fördern statt Auslese“ ist falsch. Es muss heißen: Fördern durch Differenzierung! Gleichmache- rei würde zudem jede Anstrengungsbereitschaft gefährden, sie würde Eigenverantwortung und Eigeninitiative bremsen. 2. Wir brauchen schulische Vielfalt statt in- tegrierte Einfalt. Die Einheitsschule in Deutschland ist gescheitert. Deshalb gibt es keinen Grund, sie jetzt im Gewan- de der Gemeinschaftsschule neu aufzulegen. Seit den 70/80 Jahren hat sie in allen Studien schlecht abgeschnitten. Besonders eindrucksvoll ist die Stu- die „Bildungsverläufe und psychosoziale Entwick- lung im Jugendalter“ (BIJU) des Max-Planck-Insti- tuts für Bildungsforschung (MPIB). Für NRW etwa wird als Hauptergebnis festgehalten: Am Ende der 10. Klasse liegen Gesamtschüler im Vergleich mit Realschülern um zwei, im Vergleich mit Gym- nasiasten um mehr als zwei Jahre zurück – und das trotz einer Schülerklientel der Gesamtschule, die sich von der Schülerklientel der Realschule we- der hinsichtlich sozialer Herkunft noch hinsichtlich intellektueller Fähigkeiten unterscheidet. Zugleich sind es die Länder Bayern und Sachsen, die bei PISA eben ohne Gesamtschulen ganz nahe an die internationalen Spitzenwerte herankommen. Es ist auch keineswegs jede öffentlich hochgeju- belte oder gar preisgekrönte Gesamtschule die „beste Schule Deutschlands“. Allein die Tatsache, dass es eine Inflation an Schulpreisen gibt, an de- nen sich in der Regel jeweils kaum mehr als hun- dert der 42.000 Schulen in Deutschland beteiligen, macht das deutlich. Die Behauptung, gewisse deutsche Gesamtschulen würden bei PISA besonders gut abschneiden, ist eine Lüge. Die seit 2002 in der Öffentlichkeit her- umgereichten und öffentlich nie korrekt dargestell- ten PISA-Ergebnisse der Laborschule Bielefeld und der Helene-Lange-Schule Wiesbaden als zwei angeblich herausragender Reformschulen ha- ben für manchen Irrglauben gesorgt. Tatsächlich sind die PISA-Daten dieser beiden Schulen alles andere als spektakulär gut. In keinem Fall taugen die PISA-Ergebnisse der beiden Schulen in Biele- feld und in Wiesbaden als Beleg für die angebliche Überlegenheit von Gesamtschulen. Die Erfolglo- sigkeit deutscher Gesamtschulen ist den Steuer- zahler übrigens teuer zu stehen gekommen. Man weiß, dass Gesamtschulen um rund 25 bis 30 Prozent teurer sind als Schulen des gegliederten Schulwesens. Gesamtschulen in Deutschland sind gleichwohl trotz weit überdurchschnittlicher per- soneller Ausstattung bei Leistungstests stets weit hinter den Realschulen gelandet. 3. Der Mensch beginnt nicht erst mit dem Abitur! Oder: Wenn alle Abitur haben, dann hat keiner mehr Abitur. In den letzten Jahrzehnten hat uns ein „Abitur- wahn“ ergriffen. Wenn der Mensch aber erst mit dem Abitur beginnt, verspielen wir die Vorzüge unseres beruflichen Bildungswesens. Damit gefährden wir den Mittelstand und in der Folge das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Die immer wieder berichteten Quoten an Studier- berechtigten und Akademikern sind international nicht vergleichbar. Vielmehr sollte zu denken ge- ben, dass Länder mit höchsten Abiturienten-Quo- ten teilweise zugleich die höchsten Quoten ar- beitsloser Jugendlicher haben. Man darf außerdem annehmen, dass das, was andere Länder als „Abi- tur“ oder als „Studium“ deklarieren, bei uns nicht einmal einer Fachschulausbildung entspräche. Die Akademiker-Quoten sind international nicht vergleichbar, in Finnland und in den USA sind auch Krankenschwestern und Kindergartener- zieherinnen „Akademikerinnen“. Im Übrigen gilt: Bei der Abiturientenquote verhalten sich Quanti- tät und Qualität reziprok. Ein Abitur „light“ ist kein Attest für Studierfähigkeit. Man könnte auch sagen: Wenn alle Abitur haben, dann hat keiner mehr Abitur. Eine „Verhochschulung“ unserer Ge- sellschaft wird der Forderung nach Höherqualifizie- rung jedenfalls nicht gerecht. Interessant ist zudem: Dort wo man in Europa die niedrigsten Abiturienten-Quoten hat, hat man zugleich die besten Wirtschaftsdaten; nämlich in Österreich, in der Schweiz sowie in Ba- den-Württemberg und Bayern. Außerdem sollte man berücksichtigen: Die Steigerung der Quote der Studierberechtigten binnen 40 Jahren von sechs auf über 40 Prozent hat die deutsche Wirtschaft keineswegs auf das Siebenfache verbessert. Wir sollten uns vor lauter Schielen auf die Abiturien- tenquote hüten, die Vorzüge unseres beruflichen

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