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ProPhil_15_03

6 3-2015 Bildungswesens zu verspielen. Unser berufliches Bildungswesen ist für Millionen junger Menschen Basis für Aufstieg und Beschäftigung. Und auch in Zukunft wird der Großteil der jungen Menschen über die berufliche Bildung den Einstieg in einen Beruf finden. In der öffentlichen Debatte wird aber permanent verdrängt, dass Deutschland ein sehr leistungsfähiges Berufsbildungssystem hat – und zwar bestehend aus dem dualen System mit seiner Kooperation von Berufsschule plus Betrieb sowie aus zahlreichen Formen vollschulischer Berufsbildung. International ist dieses System unumstritten, ja sogar hochangesehen. Dabei wären viele Länder – nicht nur der zweiten und dritten Welt – froh, über Vergleichbares zu verfügen. Dementsprechend reisen seit Jahren Amerikaner, Japaner, Chinesen und andere durch die berufsbildenden Schulen und Ausbildungsstätten zwischen Flensburg und Gar- misch. 4. Die Debatte um Bildungsgerechtigkeit ist nichts anderes als der sozialroman- tisch kaschierte Versuch, über die Schule Gleichmacherei zu betreiben. Dabei sind die Möglichkeiten des sozialen Auf- stiegs mittels Bildung in Deutschland so gut wie kaum in einem anderen Land der Welt. Wir haben inklusive der Berufsschulpflicht eine zwölfjährige Schulpflicht, das ist eine große soziale Errungen- schaft. Wir haben an die fünfzig verschiedene Wege zu einer Hochschulreife. Je nach Bundesland erwerben zwischen 40 und 50 Prozent der Studier- berechtigten ihren Hochschulzugang, ohne jemals ein Gymnasium besucht zu haben. Nutznießer die- ser Vielfalt an Wegen sind vor allem Kinder aus so- genannten bildungsfernen Schichten. Da PISA nur Fünfzehnjährige testet, werden diese Wege der vertikalen Durchlässigkeit mit PISA nicht er- fasst. Wenn gesagt wird, dass die Bildungssysteme anderer Staaten sozial durchlässiger seien als das deutsche System, dann ist das eine Legendenbil- dung. Schließlich haben diese Staaten oft höchste Quoten arbeitsloser Jugendlicher (in Finnland über 20 Prozent). Gewiss müssen Bildung und Bil- dungspolitik gerecht sein. Gerecht heißt aber nicht gleich! Der Zusammenhang von Schulleistung und sozialer Herkunft ist ansonsten weltweit keine neue Erkenntnis. Sie kann aber nicht der Grund sein, dass „progressive“ Bildungspolitiker gebets- mühlenhaft die Forderung nach einem – angeblich gerechten – gleichmacherischen Bildungswesen erheben. Das geschieht aber, und deshalb droht aus der Gerechtigkeitsrhetorik eine Rhetorik des Klassenkampfes zu werden: Das gegliederte Schulwesen diene dem Zweck, eine ständische Gesellschaft zu erhalten. Und: Die „obere Dienst- klasse“ habe Angst vor einer nivellierenden Masse und lege deshalb Wert auf Exklusivität. Überhaupt scheint sich „Bildungsgerechtigkeit“ zu einem Trojanischen Pferd der Schulpolitik zu ent- wickeln. Am Ende läuft es auf den Kernsatz der Egalisierer hinaus: – Was nicht alle können, darf offenbar keiner kön- nen; – Was nicht alle sind, darf vermutlich keiner sein; – Was nicht alle haben, darf anscheinend keiner haben. Gegen das Gerede von der Ungerechtigkeit unse- res Schulsystems steht erstens: Wir hatten in den vergangenen drei Jahrzehnten durch zahlreiche Schul- und Hochschulgründungen vielerlei positive Effekte, die gerade bildungsfernen Schichten zugu- te kamen. Gegen das Gerede von der Ungerechtigkeit des deutschen Schulwesens steht zweitens: Es war das gegliederte Schulwesen, das die Abiturienten- quote binnen 30 Jahren mehr als verfünffacht hat. Gegen das Gerede von der Ungerechtigkeit des deutschen Schulwesens steht drittens: Es sind gerade Länder mit flächendeckenden Einheits- schulsystemen, die wohlhabende Eltern aus dem öffentlichen Schulwesen hinaustreiben und teure Privatschulen (und Privatkindergärten) wählen lassen (siehe USA, Frankreich, GB, Südkorea, Japan …) Natürlich sollen alle Kinder gleiche Startchancen haben. Aber Chancen sind Chancen, jedoch keine Vollkasko-Garantien, zu Erfolgsaussich- ten können sie erst durch eigene Anstrengung wer- den. Gerade auch beim Bildungserfolg kommt es auf gelebte Eigenverantwortung an. Der Staat hat dabei eine Bringschuld, er muss ein leistungsfähi- ges und differenziertes Bildungswesen vorhalten, die Adressaten haben aber auch eine Holschuld. Wer die Chancen nicht nutzt, der praktiziert Selbst- selektion. 5. Das deutsche Bildungswesen bietet gera- de mit seiner Differenzierung eine ausge- prägte soziale Durchlässigkeit. Hinsichtlich Durchlässigkeit sind zwei Aspekte voneinander zu unterscheiden: die horizontale und die vertikale Durchlässigkeit. Horizonta- le Durchlässigkeit ist gegeben, wenn Schüler in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 zwischen verschie- denen Schulformen wechseln können. Vertikale Durchlässigkeit ist gegeben, wenn jeder Schul- abschluss zugleich einen Anschluss an weiter- führende Bildung im Oberstufen- und im berufli- chen Bildungsbereich darstellt. Es gibt auch keine Sackgassen! Die horizontale Durchlässigkeit hat ihre Grenzen freilich dort, wo es um den Erhalt der eigenstän- digen Profile der Schulformen geht. Unbegrenzte horizontale Durchlässigkeit nämlich würde eine völlige Einebnung der Schulformprofile voraus- setzen. Die stets von OECD, SPD, LINKE/PDS, GRÜNEN und Gewerkschaften behauptete sozi- ale Ungleichheit des deutschen Bildungs- wesens ist ansonsten ein PISA-Artefakt. Man kann soziale Ungleichheit bzw. Gleichheit nämlich nicht mit PISA messen, weil PISA Fünf- zehnjährige testet und damit weggedrückt wird, dass rund die Hälfte der später Studierberech- tigten kein Gymnasium besucht hat. Eine Lang- zeitstudie von Prof. Dr. Helmut Fend (Universität Zürich und Universität Konstanz) hat zudem 2008 nachgewiesen: Der Besuch einer Gesamtschule schafft keineswegs verbesserte soziale Aufstiegs- möglichkeiten. Basis dieser Untersuchung mit dem Titel „LifE = Lebensverläufe Kindheit ins frühe Erwachsenenalter“ war die Analyse der Lebensläufe von 1.527 Personen vom 12. bis zum 35. Lebensjahr im Großraum Frankfurt. Diese hatten in den 80er Jahren entweder eine Schule des gegliederten Schulwesens, eine Förderstufe oder eine Gesamtschule besucht. Zentrales Er- gebnis der LifE-Studie ist: Die soziale Selektivität bei den verschiedenen Stufen des Bildungs- und Berufsweges wird weder durch Förderstufen noch durch Gesamtschulen reduziert, wiewohl diese Schulformen diesen Anspruch seit Jahrzehnten erheben. In der ELEMENT-Studie 2008 (Prof. Dr. Rainer H. Lehmann, Humboldt-Universität Berlin) heißt es hinsichtlich sozialer Durchlässigkeit einer vier- jährigen versus sechsjährigen Grundschule: „Die ELEMENT-Studie hat keine Anzeichen dafür ge- liefert, dass der gemeinsame Unterricht in den Klassenstufen 5 und 6 soziale Disparitäten ab- schwächt.“ Gemessen an diesen Fakten, steht die Bildungspo- litik in Deutschland jedoch kopf – ja sie ist auf Ver- kopfung fixiert. Georg Picht feiert offenbar seine Wiedergeburt mit seinem 1963 ausgesprochenen Diktum: „Wir brauchen mehr Abiturienten, auch wenn wir sie nicht brauchen.“ 6. Die Bedeutung der Entscheidung über die weiterführende Schullaufbahn ihrer Kinder wird von manchen Eltern überbe- wertet. Unter Teilen der Elternschaft entwickelt sich beim Übergang ihrer Kinder von der Grundschule an eine weiterführende Schule eine manchmal schier hysterische Haltung. (Siehe die Realsatire „Frau Müller muss weg!“) Unter diesen Eltern hat sich die Vorstellung breit gemacht, ihr Kind habe für den Rest seines Lebens nur dann gute Startchan- cen, wenn das Kind auf das Gymnasium geht. Tiefenpsychologisch betrachtet: Wenn das eigene Kind nicht ans Gymnasium kann, scheitert, wird das von manchen Eltern wie eine narzisstische Kränkung empfunden. Diese Haltung ist durch folgende Faktoren mitge- prägt: – durch eine Debatte, in der es überwiegend ums Gymnasium geht; – durch die Propaganda gewisser politischer Kräf- te sowie durch die OECD und gewisse Stiftun- gen, dass man nämlich nur dann eine Chance im „globalen Haifischbecken“ habe, wenn man Abitur und Hochschulabschluss habe; – durch den Trend zur Ein-Kind-Familie; – durch den höheren Anteil von Eltern, die selbst einen formal höheren Bildungsabschluss ha- ben. — 63-2015

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