14 2-2016 Droht der sächsische Bildungs-Exit? „Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar.“ Ingeborg Bachmann Jedes Jahr werden diejenigen Abiturienten, die ei- nen Durchschnitt von 1,0 erreicht haben, von der hiesigen Regionalpresse mit Foto gefeiert und mit einem Eisbecher belohnt – so auch dieses Jahr. Die jungen Menschen in der Blüte ihrer Jahre lächeln zufrieden und selbstbewusst in die Kamera. Potz- blitz, denkt da der Betrachter und Leser, die müs- sen ja durchweg fleißig gelernt haben, alles andere sausen gelassen, die Freizeit geopfert, Freunde/ Freundinnen abserviert, die Theater-AG abgesagt, die Independent-Schulband aufgelöst, sämtliche Social Media-Kontakte blockiert, keine Sekunde verschwendet – und vielleicht sogar die psychische Gesundheit, wenn nicht ruiniert, so denn doch ge- fährdet haben – glaubt man den Warnungen eines besorgten Vaters und der sächsischen Kultusminis- terin (nachzulesen in der LVZ vom 13.4.2016 und der ProPhil, 2/2016 Ausgabe). Doch halt, was sagen die frischgebackenen Abitu- rienten selbst dazu? „Ich habe ein gutes Abi angestrebt, aber nicht extra dafür gelernt. Ich hatte immer das Glück, dass ich mir alles einprägen konnte, was ich einmal geschrie- ben oder gelesen habe. So sind mir die Prüfungen nicht schwergefallen." Die 18-Jährige absolviert der- zeit schon einen dreimonatigen „Schnupperkurs" im Bethanien-Krankenhaus, denn sie will später Ärztin werden. In ihrer Freizeit reitet und tanzt sie gern, und sie geht regelmäßig ins Fitness-Studio.“ kann da der interessierte Leser erfahren. Hm. Wohl eine Ausnahmeerscheinung? Man liest weiter: „Den 1,0-Durchschnitt habe ich mir nicht unbe- dingt vorgenommen, aber ich freue mich", for- muliert die zweite Abiturientin, die in ihrer Freizeit Kontrabass spielt und sich im Frauenfußball-Team engagiert. „Bei mir stand aber immer der Sport an erster Stelle", erklärt der einzige junge Mann, ein aktiver Schwimmsportler. „Deshalb habe ich das Abitur in aller Ruhe auf mich zukommen lassen, und es hat wunderbar geklappt." In der vergangenen Saison nahm er mit der Staffel an der Deutschen Meister- schaft teil. Er wechselte übrigens nach einem sou- veränen Realschulabschluss von der Oberschule an das Gymnasium und konnte auch dort mit seinen Leistungen überzeugen. Lediglich das Zwillingspaar räumt ein, „fleißig für die Abi-Prüfung gebüffelt zu haben.“ Aber die Zeit, um aktiv Handball zu spielen, haben die beiden dann doch noch gefunden. Das fügt sich nun ganz und gar nicht in die Aus- sagen der Kultusministerin Brunhild Kurth, die die Stundenzahl um vier Stunden – von derzeit 269 auf 265, wie von der Kultusministerkonfe- renz vorgegeben – bis zum Abitur kürzen will, weil sie sich um die Stressresistenz sächsischer Schülerinnen und Schüler sorgt: „Weshalb muss Sachsen unbedingt Deutscher Meister im Stun- denvolumen sein? Wir müssen uns auch mal fra- gen, welchen Stress wir unseren Kindern zumu- ten. Die Belastung für alle ist teilweise enorm.“ (LVZ am 13.4.2016). Doch keine Angst, das wird sich nicht auf das Bildungsniveau auswirken – glaubt Frau Kurth- allerdings sprechen die Tatsachen eine andere Sprache: Das sächsische Bildungssystem ist derzeit das leistungsfähigste unter den deutschen Bundes- ländern, weiß die LVZ: „So schnitten die Sachsen beim weltweit größten Schulleistungstest Pisa bun- desweit überdurchschnittlich gut ab. Im Bildungs- monitor der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft nahm der Freistaat im vergangenen Jahr zum zehnten Mal in Folge den Spitzenplatz ein. Dabei war der Abstand zu den zweit- und drittplatzierten Bundesländern Thüringen und Bayern gegenüber 2014 sogar größer geworden.“ (13.4.2016). Schlimm, dieses unsinnige Lernen. Und erst das Wis- sen, das man später überhaupt nicht mehr gebrau- chen kann – eine Ungeheuerlichkeit! Wozu braucht Sachsen noch erste Plätze vor Thüringen und Bay- ern? Was man braucht, sind Wertekanon und Frei- räume für Schulen, Schülerinnen und Schüler! Erstaunlich ist allerdings, dass erst 10 Jahre ins Land gehen mussten, bis diese „Überfrachtung“ und „Überlastung“ von der Kultusministerin als Problem erkannt wurden – bis vor kurzem nämlich war davon nicht die Rede. Was steckt denn aber nun tatsächlich dahinter? Etwa der böse Sparzwang? „Sachsen bekommt die nötige Anzahl Leh- rer nicht zusammen“ lautet der Leitartikel in der Freien Presse vom 18.6.2016 (online am 17.6.2016). Zahlreiche Absolventen, um die man frühzeitig geworben hatte, haben „bereits ver- einbarte Verträge“ wieder aufgelöst. Gleichzei- tig registriert das Kultusministerium einen „rapiden Anstieg bei den Anträgen auf Rente mit 63“. Jetzt werden „zuhauf Seiteneinsteiger eingestellt“… Merke: Als Kultusministerin muss man vor allem flexibel sein und Mut zu pragmatischen Entschei- dungen aufbringen! Es sind nicht genügend Lehre- rinnen und Lehrer da? Es will auch keiner/keine so richtig nach Sachsen (woran das nur liegt?) – nun, dann wird eben der Lehrplan „ausgedünnt“ und Stunden gekürzt und ruckzuck! ist das Problem ge- löst. Dann gibt’s sogar noch eine Belobigung vom Finanzministerium… und Beifall von jenen Eltern, die in den Leistungsanforderungen des Gymnasi- ums eine extreme Zumutung und damit auch Be- nachteiligung ihrer Kinder sehen. Nun zeigt das Beispiel des jungen Mannes, der sein Abitur trotz Leistungssport mit 1,0 abge- schlossen hat, dass das sächsische Bildungswesen jedem, der das intellektuelle Potential, die not- wendige Disziplin und den Leistungswillen hat, eine gerechte Chance auf den Bildungsabschluss einräumt, der ihm mit seinen Fähigkeiten zusteht. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ mahnt ein deut- sches Sprichwort. Wer studieren will, muss dazu auch in der Lage und bereit sein, sich etwas abzu- fordern, selbst wenn der Abiturdurchschnitt „nur“ durchschnittlich ist. Wohin das kontinuierliche Absenken der Leistungsanforderungen führt, kann derzeit anhand der „Pillepalle“-Realschul-Prüfun- gen im Fach Mathematik in Berlin und Branden- burg besichtigt werden (vgl. Tagesspiegel vom 20.6.2016). Philologen des RV Zwickau im PVS Einladung für Mitglieder des Regionalverbandes Zwickau im PVS Ist der Bildungsstandort Sachsen gefährdet? In einer Diskussionsrunde mit Landtagsabgeordneten, Eltern und Lehrern möchten wir uns gemeinsam verständigen, wie durch den sich abzeichnenden Lehrermangel einem drohenden Niveauabfall gymnasialer Bildung entgegengesteuert werden kann, um den Bildungsstandort Sachsen weiterhin in hoher Qualität zu sichern. 13. September 2016 um 19.00 Uhr im Goethe-Gymnasium Reichenbach Ackermannstraße 7, 08468 Reichenbach Bitte melden Sie sich unter cornelia.schneider@phv-sachsen.de oder Telefon: 037600 4203 an. 142-2016 Bitte melden Sie sich unter cornelia.schneider@phv-sachsen.de oder Telefon: 0376004203 an.