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ProPhil_16_02

18 2-2016 Offenbar werden, um seelische Verwundungen zu vermeiden, Schulzeugnisse den Arbeitszeugnissen angeglichen. Wenn ein Schüler die Mitschüler verprü- gelt, muss der Lehrer schreiben: „Tobias verfügt über gesundes Selbstvertrau- en.“ Trinkt eine Schülerin auf dem Schulhof Bommerlunder, heißt es: „Durch ihre Geselligkeit trägt Anna zur Verbesserung des Schulklimas bei.“ Wird der Schüler aber, weil er mithilfe gefälschter Krankmeldungen geschwänzt hat, der Schule verwiesen, so heißt in Zukunft die faire Formulierung: „Lukas scheidet aus, um in einer anderen Lehranstalt eine höherwertige Tätigkeit zu übernehmen. Wir wünschen ihm vor allem Gesundheit.“ Wer über Bildung redet, redet immer auch über sich selbst. Meine Eltern hat- ten beide kein Abitur. In der Klasse, die damals noch „Sexta“ hieß, waren wir drei, vier Kinder, die nicht von Ärzten, Professoren, Pfarrern oder Apothekern abstammten, wir erkannten einander sofort. Für mich war das Bildungsbürgertum ein Sehnsuchtsort Das Wort „Bildungsbürgertum“ wird in der Politik heute oft abwertend verwendet. Das ist ein bisschen so, als ob in der Wirtschaft das Wort „For- schung“ zum Schimpfwort geworden wäre. Für mich, der im Arbeiterhaus- halt der Großeltern aufgewachsen ist, war das Bildungsbürgertum ein Sehn- suchtsort, da wollte ich hin. Bildung soll heute praktischen Nutzen haben, für die Wirtschaft, sie soll funktionierende Arbeitskräfte hervorbringen, dazu gesellschaftliche Probleme lösen und nicht selten auch die politischen Ideen der Regierung in die Hirne hämmern. In der klassischen Bildungsbürgerfamilie aber hat man nicht aus Karrie- regründen Latein oder Geigespielen gelernt. Man hielt Bildung für einen Selbstzweck, für etwas Schönes, Erstrebenswertes, eine bewusstseins- erweiternde Voraussetzung für ein gutes Leben, ob mit oder ohne Geld. Bildung war etwas Ähnliches wie die Grundlagenforschung in der Natur- wissenschaft, der kurzfristige Nutzen stand nicht im Vordergrund. Aber der langfristige Nutzen war enorm, ein Leben lang. Natürlich gab es in meinem Gymnasium eine soziale Selektion. Sie bestand aber nicht darin, dass diese Schule keine Arbeiterkinder aufgenommen hät- te. Sie bestand darin, dass wenige Arbeitereltern es wagten, dort anzu- klopfen. Das Gymnasium, das ich mir als Ideal vorstelle, ist offen für alle Begabten, es schaut auf die Intelligenz und nicht auf die Abstammung. Aber es fordert auch Leistung. Jeder soll eine Chance auf Bildung bekommen, aber er muss sie auch nutzen. Eine Abiturientenquote von 60 Prozent eines Jahrgangs, die durch Absenkung des Niveaus erreicht wird, ist in Wirklichkeit nur ein fauler Trick, eine Manipulation der Statistik, davon hat weder der Arbeitsmarkt noch der Abiturient etwas. Das Gymnasium hat seit zweieinhalbtausend Jahren bewiesen, dass es gebildete und lebenstüchtige Menschen hervorbringt. Statt das Gymnasium zu bekämpfen, sollten die Bil- dungsreformer dafür kämp- fen, dass mehr Kinder aus „bildungsfernen“ Familien (ein Politikerwort, um an- dere, wertende Worte zu vermeiden) aufs Gymnasium gehen dürfen. Sie sollten es aber nicht mit ihren üblichen schmutzigen Tricks tun, etwa, indem sie die Gymnasien zwingen, alle Schüler aufzu- nehmen, kurz, indem sie das Gymnasium zerstören und ihm nur noch seinen Namen lassen. Die Theoretiker der Bildung glauben, dass sie es besser wissen als die Praktiker Fast alle Eltern wissen, dass in einer Schulklasse normalerweise nicht die Bra- ven den Ton angeben, die Streber mit den gemachten Hausaufgaben, sondern die scheinbar Starken und Lauten. Das sind die Rollenmodelle, jedenfalls bei den Jungs. Fast alle Lehrer wissen, dass zwei oder drei sogenannte schwierige Schüler das Lernklima einer ganzen Klasse ruinieren können. Es ist nicht so, dass die schwierigen Schüler (die nicht lernen wollen oder können, die laut sind, die gewalttätig sind, die ihre Lehrer offen verachten), dass diese schwieri- gen Schüler (die nichts dafür können, dass sie so sind) von den anderen lernen und ihr Verhalten den anderen anpassen würden. Eher ist das Gegenteil richtig. Auf dieser falschen Grundannahme – die schwierigen Schüler lernen von de- nen, die keine Schwierigkeiten machen – basiert die heutige Bildungspolitik. Fast alle Bildungspolitiker und die meisten Bildungsexperten sind genau dieser Ansicht, deshalb sollen Kinder möglichst lange gemeinsam unterrichtet werden. Das Lieblingsargument der Reformer ist die PISA-Studie, in der ein Land mit Gesamtschulen, Finnland, am besten abgeschnitten hat. Allerdings haben auch Länder, die bei PISA sehr schlecht abschnitten, Gesamtschulen – Mexiko zum Beispiel. Mangelhaft ausgestattete, übergroße Gesamtschulen in einer sozial schwierigen Umgebung führen ins Desaster, siehe Mexiko, siehe Berlin. Die Theoretiker der Bildung glauben, dass sie es besser wissen als die Prak- tiker. Die Praktiker, das sind jene Eltern, die täglich mit echten Kindern zu tun haben. Die Praktiker, das sind auch viele Lehrer, die das sich seit Jahren erfolglos drehende Bildungsreformkarussell nur noch mit Sarkasmus ertragen. Statt die vorhandenen guten Schulen endlich zu stärken, mehr Schüler, mehr Lehrer, mehr Förderung, machen die Reformer den guten Schulen, zum Bei- spiel den Gymnasien, das Leben schwer und erfinden ständig etwas Neues. Mit der Bildungspolitik allein lassen sich keine gesellschaftlichen Probleme lösen Die zweite falsche Grundannahme der heutigen Bildungspolitik lautet: Mit der Bildungspolitik, ganz allein mit ihr, ließen sich gesellschaftliche Probleme lösen. In Wirklichkeit sind die Schulen damit überfordert. Eine gute Schule, wie wir sie kennen, kann und soll in Wirklichkeit vor allem eines leisten – sie kann Schülern etwas beibringen. Vielleicht schafft sie es auch, Persönlichkeiten zu formen und eine Lust am Lernen zu vermitteln, die lebenslang anhält. Das ist schwierig genug. Wenn eine Schule die frühe Erziehungsarbeit nachholen soll, die in vielen Elternhäusern nicht mehr getan wird, wenn sie grundlegende Sprachkenntnisse, motorische Fähigkeiten und soziale Grundkompetenzen vermitteln und womöglich sogar Kriminalitätsprävention leisten soll, dann handelt es sich um eine Schule neuen Typs, die völlig anders ausgestattet sein müsste als die Schulen, die wir haben. Manchmal gebe ich Schreibkurse. Einmal haben ein paar Teilnehmer ver- langt, dass wir Arbeitsgruppen bilden und „keinen Frontalunterricht“ ma- chen. Die Teilnehmer wollten „Methodenwechsel“. Ich dachte, womöglich soll ich meine Thesen als Tanz vor- tragen. Aber nein, „Metho- denwechsel“ ist ein Fachbe- griff aus der Modekiste. Alle zwanzig Minuten sollen die Lehrer zu Teilnehmern und die Teilnehmer zu Vortragen- den werden, damit die lieben Kinderchen, auch wenn sie schon vierzig sind, nicht über- fordert werden. Da kann man nur hoffen, dass sich auch in der Arbeitswelt der Gedanke durchsetzt, dass keiner sich anstrengen muss, aber da bin ich skeptisch. Kolumnist Harald Martenstein bei seinem Vortrag 182-2016

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