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ProPhil_16_02

19 2-2016 Ich habe mal gelesen, was über „Methodenwechsel“ so geschrieben wird: „In der Planung können Rückkoppelungsschleifen vorgesehen werden, die es ermöglichen, die Reaktionen der AdressatInnen in den Lernprozess zu integ- rieren.“ In anderen Worten, es handelt sich um Ringelpiez mit Anfassen. Diesen Wunsch haben sowohl der Kollege, der gemeinsam mit mir unterrich- tete, als auch ich in brüsker Form zurückgewiesen. Der Kollege sagte, dass die Teilnehmer, falls sie der Ansicht sind, dass sie sich das Schreiben selber beibringen können, dies jederzeit gerne tun dürfen. Wir würden dann Bier trinken gehen. Alles, was ich weiß, habe ich auf zwei Arten gelernt, durch Lesen und von Lehrern Alles, was ich weiß, habe ich auf genau zwei Arten gelernt, erstens durch Lesen, zweitens von Lehrern. Ich kann mich noch an fast alle meine Lehrer gut erinnern. Manche habe ich geliebt, andere habe ich gehasst. Aber das war auch okay. Ein guter Lehrer kann seine Schüler begeistern, er kann ein Vorbild sein, er ... ach, was erzähle ich da. Das weiß sowieso jeder. Aber die Bildungsreformer, diese Landplage, wollen die Lehrer abschaffen. Ich war auch als Hilfslehrer in einer Grundschule, schon die Achtjährigen bilden mehr Arbeitsgruppen als der SPD-Ortsverein Erkenschwick. Frontalunterricht ist schlecht? Wieso denn? Weil er undemokratisch ist? Das hat Mutter Natur natürlich verdammt undemokratisch eingerichtet, manche wissen mehr, andere weniger. Amputiert die Gehirne, verfüttert alle Gehirne an die Ziegen, dann haben wir die perfekte Demokratie. Ein guter Frontalunterricht bei einem guten Lehrer ist das Beste, was es gibt. Die Bildungsreformer würden ja selbst Einstein nach Hause schicken, weil es undemokratisch ist, sich von Einstein Physik erklären zu lassen, von oben herab, stattdessen machen wir alle jetzt schön einen Methodenwechsel und hören einem Ahnungslosen zu. „Bildung“: Horizont der Schüler erweitern oder ihren Horizont widerspiegeln? Ich habe mich mit einer Deutschlehrerin unterhalten. Die Deutschlehrerin sag- te, dass an ihrer Schule, einem Gymnasium, in der Oberstufe hauptsächlich Brecht gelesen wird. Zugunsten von Bertolt Brecht habe man Goethe weitge- hend fallen gelassen. Fack ju Göhte. Begründet werde diese Bildungsreform mit dem Argument, dass Brecht „näher an der Lebenswirklichkeit der Schüler“ sei. Die Frage, ob diese Einschätzung stimmt, lasse ich mal beiseite. Ich will auch nichts gegen die Lektüre der Dreigroschenoper sagen. Ich finde nur das Aus- wahlkriterium irre. Wenn man in der Schule bevorzugt Stoffe behandeln soll, die nahe an der Lebenswirklichkeit der Schüler sind, dann empfehle ich für den Deutschunterricht das Buch „Die besten Flirt-Tipps für Jungs und Mädchen“. Nach einer Fußball-WM könnte man im Leistungskurs Deutsch gemeinsam die Tattoos der Fußballer lesen und interpretieren. Da kann in puncto Lebenswirk- lichkeit auch Brecht nicht mithalten. Ich dachte immer, bei „Bildung“ gehe es darum, den Horizont der Schüler zu erweitern, nicht darum, ihren Horizont widerzuspiegeln. Dabei ist es natürlich ein gutes Rezept, an der Lebenswirklichkeit der Schüler anzuknüpfen. So macht es zum Beispiel Robin Williams als Lehrer in dem Schulfilm „Der Club der toten Dichter“. Ein reaktionärer Film. Beweis: Unter anderem geht es um Shakespeare. Die Schule ist mit ihrer Hauptaufgabe, Bildung, gut ausgelastet Im vergangenen Jahr hat eine Schülerin mit einem Tweet eine bildungspo- litische Debatte ausgelöst. Naina aus Köln schrieb auf Twitter: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann’ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.“ Mehr als 20 000 Menschen mochten das, sogar die Bildungsministerin Jo- hanna Wanka antwortete. Ob Naina in der Schule wirklich so eine polyglotte Granate ist, wie sie behauptet? Ich gestehe, dass mich Nainas Wort „Ge- dichtsanalyse“ ein bisschen misstrauisch gemacht hat – nennt man so was nicht eher „Interpretation“? Es gab, neben Zustimmung, auch viel Kritik. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Simone Raatz schrieb: „Vier Sprachen, Hut ab – mit diesem Intellekt ist man doch sicher in der Lage, sich die nötigen Informationen selbst zu beschaffen.“ Ich mochte diese Antwort. Noch lieber mochte ich allerdings die Twitter-Antwort von „Hermione“: „Schade, dass an Gymnasien nicht gelehrt wird, dass man auf Rolltreppen rechts steht.“ Wir dürfen die Schule mit diesem Zeug nicht überfordern. Es ist nicht der Job der Lehrer, die verpeilte Naina fit zu machen für den Alltag. Die Schule ist mit ihrer Hauptaufgabe, Bildung, gut ausgelastet. Und der Staat ist nicht für jeden Pipikram zuständig, zum Beispiel dafür, jungen Bürgern zu erklären, wie man eine Wohnung mietet. Zum Schluss gestatten Sie mir noch etwas Privates: Die politische Elite Deutschlands mit auffällig vielen Sitzenbleibern Ich bin traumatisiert durch die Tatsache, dass ich zu keiner einzigen gesell- schaftlichen Opfergruppe gehöre und in jeder gottverdammten Debatte immer Teil der Tätergruppen bin, Männer, Deutsche, Weiße, Besserverdiener. Das ist ein Scheißgefühl. Ich finde, wir Mehrfachtäter sollten als Opfergruppe aner- kannt werden. Jetzt habe ich gelesen, dass Menschen, die in der Schule sitzen geblieben sind, durch diese demütigende Erfahrung ihr Leben lang traumatisiert sind, deswe- gen soll das Sitzenbleiben demnächst überall abgeschafft werden. Da wäre ich am liebsten gegen die Wand gerannt vor Wut. Das wäre meine Chance gewesen. Ich bin in der achten Klasse wirklich um ein Haar sitzen geblie- ben, dreimal Fünf, einmal eine Vier minus im Zwischenzeugnis. Aber nein, die mussten mir ja am Ende unbedingt viermal Vier minus geben. Fast alle Leute, die ich kenne, und die mal sitzen geblieben sind, haben ganz ordentliche Karrieren hingelegt, richtig gestört wirkt keiner von denen. Die politische Elite Deutschlands besteht sogar aus auffällig vielen Sitzenbleibern. Die Ministerpräsidenten Stoiber und Kretschmann sind sitzen geblieben. Peer Steinbrück sogar zweimal. Eine Sitzenbleiberin, Edelgard Bulmahn, hat es bis zur Bundesbildungsministerin gebracht. Ich wollte aber herausfinden, wie es den echten Sitzenbleibopfern geht, also Menschen, die durch ihr Sitzenbleibtrauma wirklich geschädigt sind. Wie ver- arbeitet man das? Ich bin kein Zyniker. Ich bin, auf meine Art, schon auch sensibel. Also habe ich mir die Finger schrundig gegoogelt auf der Suche nach einer Sitzenbleiber-Selbsthilfegruppe, nach Sitzenbleibtrauma-Therapeuten oder nach den Anonymen Sitzenbleibern. Aber ich habe nichts gefunden. Als ich „Sitzenbleibopfer“ gegoogelt habe, kam ein Artikel mit der Überschrift: Warum Hugo Chávez auf seinem Öl sitzen bleibt. „Abschaffung der Führerscheinprüfung“ auf die Tagesordnung der Politik Es könnte natürlich sein, dass die Scham der Opfer so groß ist, dass sie sich nicht mal trauen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Aber ich halte etwas an- deres für wahrscheinlicher. Nämlich, dass eine Opfergruppe zur Opfergruppe erklärt wird, bevor die Opfer selbst überhaupt kapiert haben, dass sie Opfer sind. Es gibt bestimmt noch andere unentdeckte Opfergruppen, weiße Fle- cken auf der Opferlandkarte. Da habe ich noch mal nachgedacht, und mir ist etwas eingefallen, was ich all die Jahre verdrängt hatte. Jetzt breche ich mein Schweigen. Ich gebe der Scham eine Stimme. Ich war achtzehn. Ich musste rechts ranfahren. Ein alter, weißer Mann sagte: „Steigen Sie aus.“ Vor allen Leuten musste ich aussteigen. Was hatte ich Schreckliches getan? Muss man einen jungen Menschen öf- fentlich demütigen, nur weil er zwei Stoppschilder übersieht? Wollen wir, dass ein Achtzehnjähriger Angst haben muss, seinen Eltern zu beichten, dass er durch die Prüfung gefallen ist? Dass über ihn getuschelt wird: „Das ist ein Durchfaller“? Wollen wir, dass ein Fahrschüler die komplette Prüfung wiederholen muss, obwohl er nur vier oder fünf Verkehrszeichen nicht kennt? Nein, das kann niemand ernsthaft wollen. Deshalb gehört jetzt das Thema „Abschaffung der Führerscheinprüfung“ auf die Tagesordnung der Politik. Nachdruck aus Profil 4/2016 Mehr als 20000 Menschen mochten das, sogar die Bildungsministerin Jo-

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