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ProPhil_16_02

8 2-2016 dem Abitur (in Baden-Württemberg heißt das „Kursstufe“. Schauen wir nach, ob die Testaufgaben diesem Anspruch genügen: K15. Bestimmen Sie alle komplexen Zahlen z, die der Gleichung z+2–z=3+i genügen, wobei die konjugierte Zahl von z bezeichnet. Dabei kommt die Multiplikation komplexer Zahlen noch nicht einmal vor. Die Lösung ist z=1–i. Dies könnte zu Recht „voruniversitär“ genannt werden, wenn man nicht vorher in Deutschland die komplexen Zahlen ganz aus dem Lehrplan gestrichen hätte, anders als international üblich. Also war diese Auf- gabe das, was man einen „Flop“ nennt. K13: Die Anzahl von Bakterien in einer Bakterienkolonie wächst exponentiell. Um 1.00 Uhr gestern existierten 1.000, um 3.00 Uhr gestern ungefähr 4000 Bakterien. Wie viele Bakterien waren gestern um 6.00 Uhr in dieser Kolonie vorhanden? Nach diesen Angaben verdoppelt sich die Zahl immer nach einer Stunde. Das ist keine voruniversitäre Mathematik, sondern üblicher Stoff der Klasse 9 bis 10 (exponentielles Wachstum). Man braucht dafür keine Formeln, sondern eher „allgemeines logisches Denken“. Die TIMSS-Bewertung der Schwierigkeit ist mit 709,7 Punkten abenteuerlich hoch und entspricht offenbar der höchs- ten Kompetenzstufe. L12 fragt mit Multiple-Choice nach dem Abstand zweier nicht direkt benach- barter Eckpunkte in einem regelmäßigen Sechseck mit der Seitenlänge 10. Aus der Skizze ist offensichtlich, dass die Länge der Strecke echt zwischen 10 und 20 liegt. Aber alle angebotenen Zahlen in den Antworten B, C, D, E erfüllen das nicht. Also bleibt nur die Antwort A übrig (wie bei Quiz-Spielen im Fernse- hen). Was soll daran wohl voruniversitär sein? K7 ist elementare Geometrie zum Satz des Pythagoras in einer Koordinatene- bene (mit Umkehrung), gehört also zur Mittelstufe. Diese Aufgabe wird aber explizit (und fälschlicherweise) der Oberstufe zugeordnet („voruniversitäre Mathematik Kompetenzstufe III“), wo es um einen Vergleich von Deutschland mit China geht.xv Eine inhaltliche Kritik des Begriffs „voruniversitär“ findet dabei nicht statt, obwohl von Studierfähigkeit sehr wohl die Rede ist. K18 enthält (als einzige!) einen Beweis. Es genügen aber elementare Kennt- nisse über Winkel, z. B. dass die Innenwinkelsumme im Dreieck gleich 180 Grad ist. Das gehört auf jeden Fall zum Gymnasium der Klassen 7 bis 9, nicht zur Oberstufe. L14 ist sehr elementare Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zur Lösung muss man nur der Tabelle in Abbildung 1 entnehmen, dass 320 von 1.000 eben einem Anteil (also einer naiven Wahrscheinlichkeit) von 0,32 entsprechen. Etwas anderes kann nicht gemeint sein, wenngleich damit die wirkliche Wahrschein- lichkeit gar nicht erfasst ist. Interessanter wäre wohl die Frage nach der Wahr- scheinlichkeit, mit der ein Raucher auch trinkt oder ein Trinker auch raucht. Aber diese Aufgabe wird mit 569,6 Punkten bewertet, das entspricht schon der Kompetenzstufe III für Abiturienten, und das auf dem angeblich voruni- versitären Niveau. Abbildung 1: Zitat einer TIMSS-Aufgabe zur „voruniversitären Mathematik“ In ganzen Sätzen schreiben zu lernen, dafür gibt es schließlich die Uni Die Begeisterung des Königs im Märchen über mehr Ingenieur-Studenten an den Universitäten hat ihre reale Entsprechung in der angestrebten höheren Abiturquote und höheren Zahl von Hochschulabsolventen in Deutschland auch in den MINT-Fächern. Aber gerade im Hinblick auf die Aufgabe L14 könnte man spotten, dass die hohen Abbrecherzahlen an den Universitäten ja kein Wunder sind, wenn selbst die Psychometriker der empirischen Bildungswissen- schaft solche elementaren Dinge ausdrücklich mit dem Etikett „voruniversitär“ versehen und so mit der Universität in Verbindung bringen. Das intellektuelle Anspruchsniveau scheint sich gegenüber früheren Jahrzehnten verschoben zu haben. Inzwischen gilt all das als schwierig oder gar universitär, was viele Testpersonen nicht können. Man passt sich damit geschmeidig jeder Verände- rung des Niveaus an, ohne dass das auffallen kann. In einem leicht satirischen Buch eines Referendarsxvi zitiert der Autor auf Seite 30 eine Deutschlehrerin an einem Gymnasium wie folgt: „Man darf von einem Schüler der Oberstufe nicht zu viel verlangen. Man muss sich auf die heutigen Jugendlichen einstel- len. Meine Klausuren bestehen daher einzig aus Ankreuzaufgaben. In ganzen Sätzen schreiben zu lernen, dafür gibt es schließlich die Uni.“ Mit ebensolcher Satire: Wenn diese Entwicklung noch in paar Jahrzehnte so weiter geht, wird man es dereinst vielleicht als großes Ziel hinstellen, dass alle Abiturienten zumindest lesen und schreiben können sowie die Prozent- rechnung bei Benutzung eines Taschenrechners beherrschen. Alles weitere wird dann als „universitär“ gelten. Die einführenden Kurse an Hochschulen werden sich diesem anzupassen haben, sonst drohen Mittelkürzungen. Es gibt jetzt bereits universitäre Kurse zur „Studienkompetenz“, sogar eine reguläre Lehrveranstaltung dazu mit einer Klausurxvii. Die ubiquitäre „Kompetenzori- entierung“ macht’s möglich.  advanced mathematics ≠ voruniversitäre Mathematik Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass es im TIMSS-Bericht auch ca. 15 Aufgaben gibt, die entweder Differentialrechnung, Integralrechnung oder Vektorrechnung verlangen. Diese gehören zumindest in Klasse 10 oder in die Oberstufe (Kursstufe) und könnten somit „voruniversitär“ genannt werden. Aber es sind eben nur ca. 15 von 54 insgesamt bzw. 15 von 36 voruniversitär genannten Aufgaben. Innerhalb der „voruniversitären“ Aufgaben wird nicht näher unterschieden, was das TIMSS-Ergebnis als sehr fragwürdig erscheinen lässt. Dass die deutschen Abiturienten dabei dennoch nicht besonders gut abgeschnitten haben, lag nach allgemeiner Einschätzung mehr an den un- gewohnten Aufgabentypen als an deren mathematischer Schwierigkeit. Aber warum soll man gerade diese Aufgabentypen als „voruniversitär“ akzeptie- ren? Der international verwendete Begriff „advanced mathematics“ steht dem nicht entgegen, wenn man ihn auf die Schulmathematik bezieht. Damit ist der gesamte Test nicht auf dem Niveau der gymnasialen Oberstu- fe. Der Begriff „voruniversitär“ kann nur als eine Mogelpackung bezeichnet werden, so wie im Märchen angedeutet. Es ist kein Grund zu sehen, große Teile der Mittelstufenmathematik „voruniversitär“ zu nennen. Mindestens 27 Aufgaben (also die Hälfte) betreffen den Stoff der Realschule. Somit hätten Realschüler der Abschlussklassen eine faire Chance, diesen Test mit den 54 Aufgaben zu bestehen. Mit anderen Worten: Um die Mathematikkenntnisse von Abiturienten zu testen, müsste man diese TIMSS-Aufgaben wesentlich modifizieren und zumindest die allzu anspruchslosen Aufgaben zu Grundre- chenarten und Prozentrechnung herausstreichen. Andernfalls sind Aussagen wie bei den KESS-Studien über das Niveau der Lernstände von G8- bzw. G9-Abiturienten nicht begründet. Im internationalen Vergleich mag das an- ders sein, weil die Schulabschlüsse kaum den Anspruch des deutschen Abiturs haben. Fazit: Der vollmundige Begriff „voruniversitär“ hält nicht annähernd das, was er zu versprechen scheint. Er soll wohl Laien gegenüber imponieren. Dass der Mathematikunterricht an Gymnasien heutzutage überhaupt auf ein univer- sitäres Studium in einschlägigen Fächern hinzielt, darf wohl getrost als ein weiteres Märchen bezeichnet werden. Viel passender wäre die Bezeichnung „gymnasiale Mathematik“ oder „Oberstufenmathematik“ gewesen.  Märchen Teil II: Als einige Leute im Reich herausgefunden hatten, dass man Abiturienten mit solchen simplen Aufgaben getestet und dennoch weitreichende Schlüsse zu einem „Paradigmenwechsel“ beim Mathematikunterricht daraus gezogen hatte, versuchten sie, diese Erkenntnis zu verbreiten und etwas dazu zu ver- 82-2016

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