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ProPhil_16_02

6 2-2016 Das Märchen von der voruniversitären Mathematik – von Wolfgang Kühnel Zusammenfassung: Der Begriff der „voruniversitären Mathematik“, der heute in der empirischen Bildungs- forschung herumgeistert, wird – nicht ohne ein Quentchen Satire – einer kritischen Prüfung unterzogen.  Märchen Teil I: Es war einmal ein großer König, der wollte erfahren, wie gut seine Untertanen Mathematik können, denn er hatte gehört, dass Mathematik sehr wichtig sei, obwohl er selbst immer Schwierigkeiten damit hatte. Ein König muss eben an das ganze Land denken. So rief er seine Experten herbei, darunter Mathe- matiklehrer, Didaktiker und einige Hohepriester der empirischen Bildungsre- ligion (der oberste Gott hieß „Mammon“), und die schlugen ihm schließlich einen Test im ganzen Reich vor, einerseits für die Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse und dann auch einen für die ganz schlauen Leute kurz vor dem Abitur. Die Experten meinten, man solle auf zwei verschiedenen Ebenen tes- ten, nämlich die sogenannte „mathematische Grundbildung“ und dann zu- sätzlich für die Abiturienten – sozusagen als Höhepunkt – die „voruniversitäre Mathematik“. Das klingt gut, sagten sie dem König, schließlich haben wir ja auch Universitäten im Reich und streben mehr Absolventen in den Fächern an, die etwas mit Mathematik zu tun haben, also Naturwissenschaften und Technik. Vor kurzem hatten sich die Arbeitgeber und die Militärs schon über einen Nachwuchsmangel in diesen Fächern beschwert. Der König war begeis- tert und nickte, denn er wusste, dass Ingenieure wichtig für sein Reich waren. „Voruniversitär“ klingt wirklich gut, meinte er, denn das wirft ein positives Licht auf die Schulen im Reich. Allerdings wussten die Experten, dass die Schulreformen der letzten Jahre wohl doch nicht so erfolgreich waren wie eigentlich angekündigt war, und dass es mit den in der Schule erworbenen „Kompetenzen“ bei der Mathematik nicht weit her war. Daher schwante ihnen, dass der Test nicht gut ausfallen würde, und sie hatten deswegen gewisse Sorgen um ihre Pfründe und auch ein schlechtes Gewissen. Das konnten sie dem König aber nicht sagen, denn sie fürchteten seinen Zorn. Und da beschlossen sie einfach, ein bisschen zu mogeln, und von den voruniversitären Aufgaben waren schließlich viele auf recht elementarem Niveau, so dass die Schüler der 9. und 10. Klasse sie ei- gentlich auch hätten lösen sollen, und die grundlegenden Aufgaben, die wa- ren zum Teil so einfach, das hätte fast jeder Bürger im Reich gekonnt, auch mit Volksschulbildung. Der König verstand von diesen Details nichts, denn seine eigenen Kenntnisse waren ausgesprochen mager, was er wiederum gegen- über den Experten nicht zugeben konnte und wollte. So geschah es also, und schließlich wurde der Test ausgewertet, und alle waren mit dem Ergebnis zu- frieden, auch der König. Und die Hohepriester hüten weiter das Geheimnis der Aufgaben, weisen jede Kritik daran als Gotteslästerung zurück und verwenden diese „gemogelten“ Aufgaben immer wieder in ähnlichen Tests, bis in alle Ewigkeit. So kommt es, dass auch heute noch im ganzen Reich fast niemand von der Mogelei weiß. Dieser König steht hier stellvertretend für die Regierenden zahlreicher Länder, besonders auch für die Regierenden in Deutschland. Zumindest in Deutschland kokettieren ja etliche Politiker (darunter sogar Kultusminister) immer noch da- mit, eine 5 in Mathematik gehabt zu haben. Der König im Märchen zeigt da wenigstens noch eine gewisse Scham. Kein Märchen ist aber die Intention des Ganzen und auch die Tatsache, dass der wenig bekannte Begriff „voruniversi- täre Mathematik“ seine Entstehung einem internationalen Test verdankt, und zwar TIMSS/III aus den 1990er Jahren.  „Voruniversitäre Mathematik“ Dabei wurden Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen der Sekundar- stufe II (in Deutschland also angehende Abiturienten an den Gymnasien so- wie die obersten Klassen an Berufsschulen, Berufskollegs, Fachoberschulen etc.) getestet. Das sollte einem internationalen Vergleich dienen, wobei die Ergebnisse bei den deutschen Teilnehmern eher mager ausfielen. Anders als im Märchen löste das – jedenfalls in Deutschland – keinerlei Zufriedenheit aus, vielmehr hagelte es Vorschläge von allen Seiten, was man verbessern könnte und müsste. Auch die Fachverbände GDM, MNU und DMV haben sich dazu geäußerti , aber ohne das Wort „voruniversitär“ zu erwähnen oder auf die tatsächlichen Testaufgaben Bezug zu nehmen. Niemals spielte in dieser – noch heute nachwirkenden – Diskussion die Tatsache eine Rolle, dass nur etwa ein Drittel der Testpersonen Gymnasiasten waren und zwei Drittel den beruflichen Bildungsgängen zuzuordnen waren, während andere Länder ausgewählte Eli- teschulen an den Start geschickt hatten. Die deutschen Gymnasiasten haben jedenfalls im Vergleich gar nicht schlecht abgeschnitten, was man an den Zah- len im TIMSS-Berichtii klar sehen kann. Auch scheint es merkwürdigerweise gar keine kritische Rezeption des Begriffs „voruniversitär“ zu geben, und an Universitäten scheint man ihn kaum zu kennen. International heißt das schlicht „advanced“ (bezogen auf allgemeinbildende Schulen) und hat mit der Univer- sität auch sprachlich nichts zu tun. Wie im Märchen gliedert sich dieser Test TIMSS/III in einen Teil „mathemati- sche Grundbildung“ und einen Teil „voruniversitäre Mathematik“, der letz- tere nur für die Abiturienten. Zu dem letzteren würde ein normal denkender Mensch ausschließlich anspruchsvolle Mathematik der gymnasialen Oberstu- fe zählen, die tatsächlich zu den universitären Eingangskursen hinführt, also Differential- und Integralrechnung, vektorielle analytische Geometrie und ggfs. Wahrscheinlichkeitsrechnung jenseits des simplen Würfelns oder auch die sogenannte „moderne Mathematik“ mit Mengenlehre und strukturierten Mengen (etwa Gruppen, Ringe, Körper). Aber das ist bei TIMSS offenbar nicht gemeint. Genau dieser Begriff „voruniversitäre Mathematik“ taucht dann wie- der in späteren Studien auf, so auch bei TOSCA in Baden-Württemberg sowie bei LAU und KESS in Hamburg. Die KESS 12 – Studie hat angeblich ergeben, dass die G8-Abiturienten von 2011 dasselbe können wie die G9-Abiturienten einige Jahre zuvor. Daher hat das immer noch eine gewisse Aktualitätiii . Ge- nauer als bei TIMSS wird aber „voruniversitär“ offenbar nirgends definiert, und der Vorspann des TIMSS-Berichtsiv mit 54 Beispielaufgaben zur Mathema- tik (darunter 36 angeblich voruniversitäre) drückt sich gerade in diesem Punkt recht vage aus. Um dem nachzugehen, was wirklich gemeint war, muss man diese Aufga- ben hinsichtlich ihrer Schwierigkeit und auch hinsichtlich ihrer Zuordnung zu den einzelnen Klassenstufen ansehen. In einer Untersuchungv ist das für jede der 54 veröffentlichten TIMSS/III-Aufgaben detailliert geschehen mit dem Resultat, dass das – etwa so wie in dem Märchen angedeutet – eher eine Mogelpackung ist: Vollmundig nach außen, aber vergleichsweise an- spruchslos nach innen. Es ist eben nur ein Märchen, dass diese Mathematik fachlich anspruchsvoll ist. Die Aufgaben zur mathematischen Grundbildung ensprechen alle dem Stoffplan der Haupt- und Realschule, und auch die „voruniversitäre Mathematik“ hält nicht annähernd das, was sie zu verspre- chen scheint. Mit der Universität hat das schon mal überhaupt nichts zu tun, sondern wie im obigen Märchen klingt es nur so wunderbar in den Ohren der Regierenden. Und die geben schließlich das Geld für Institute für Schul- entwicklung und -evaluation sowie für weitere psychometrische empirische Studien, also die im Märchen genannten „Pfründe“. In der ZEITvi ließ man sogar verlauten, die voruniversitäre Mathematik bei TIMSS wäre „höhere Mathematik“, was nun völliger Unsinn ist (also gewissermaßen ein Märchen anderer Art), denn dieser Begriff ist traditionell nur für die Hochschulmathe- matik in Gebrauch, speziell die für Ingenieure, aber niemals in Bezug auf das Gymnasium.  TIMSS: Mathematisches Handeln und Kommunizieren statt logisches Denken und konkrete Kenntnisse Dass die Experten im Märchen den Zorn des Königs fürchten, hat eine Ent- sprechung in der Realität: In diesem ZEIT-Artikel ist mit einigem Spott berich- tet worden, dass die Landesfürsten in Deutschland damals einen Vergleich der Bundesländer lieber nicht sehen wollten, auf jeden Fall sollte der nicht veröffentlicht werden. Im Gegensatz dazu wurde und wird man nicht müde, international einen Vergleich mit anderen Ländern in der einen oder anderen Richtung politisch auszuschlachten: Man sprach z. B. merkwürdig oft von „den skandinavischen PISA-Siegern“ mit ihren Gemeinschaftsschulsystemen, was dann bei PISA 2012 prompt widerlegt wurde. 62-2016

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