17 2-2016 „Die besten Flirt-Tipps für Jungs und Mädchen. Das Gymnasium und die Bildungsreformer.“ von Harald Martenstein – Kolumnist der ZEIT und des Berliner Tagesspiegels Ich verdanke dem Gymnasium fast alles, zumindest im geistigen Bereich. Als Kind hatte ich keine idealen Startbedingungen. Dass ich heute vom Schreiben leben kann, verdanke ich vor allem meiner Schule und meinen Lehrern. Zum Glück haben sie mich gezwungen, an meine Grenzen zu gehen und meine Grenzen zu erweitern. Deshalb verteidige ich das Gymnasium, mit jeder Faser meines Herzens. Was die Bildungspolitik betrifft, wird es für mich allerdings immer schwieriger, mich zu äußern, ohne satirisch zu werden. 2014 haben etliche Bildungspolitiker einen gemeinsamen Aufruf zur „Zukunft des Gymnasiums“ veröffentlicht. Das hat mich sehr gewundert, weil „Gym- nasium“ doch für viele Bildungsreformer beinahe ein Hasswort ist. Warum? Gymnasium, das hieß immer: umfassende Bildung. Und je umfassender ein Mensch gebildet ist, desto skeptischer steht er natürlich in der Regel Bildungs- reformen gegenüber. Wenn Bildungsreformer sich zur „Zukunft des Gymnasiums“ äußern, dann ist das ungefähr so, als ob Nordkorea einen Aufruf zur „Zukunft der Meinungs- freiheit“ veröffentlicht. Das Turboabitur: eine typische deutsche Bildungsreform Der Aufruf sollte das Turboabitur verteidigen. Das Turboabitur nach acht statt neun Jahren ist eine typische deutsche Bildungsreform. Das heißt, sie wird relativ unvorbereitet gegen den Widerstand vieler Eltern und nicht weniger Lehrer in hohem Tempo durchgesetzt, dann gibt es Probleme, und nach eini- gen Jahren wird der Menschenversuch unter heftigen Rückzugsgefechten ab- gebrochen. Unis beklagen, dass 17-Jährige einem Hochschulstudium geistig noch nicht gewachsen sind. Man ist auch zu jung, um wirklich eine so wichti- ge Lebensentscheidung wie die des künftigen Berufes fällen zu können. Man darf ja nicht einmal einen Mietvertrag unterzeichnen, in Zukunft natürlich in Druckschrift. Warum soll jemand mit Anfang zwanzig in einen akademischen Beruf einsteigen? Wir arbeiten doch schon im Alter länger. Das Turboabitur hat auch dazu geführt, dass Kinder nicht selten einen zehnstündigen Arbeits- tag haben – alles in allem eine super Idee, oder? Die Autoren des Aufrufs schlugen vor, einfach die Stundenzahl und damit die Bildungsstandards zu senken. Weniger Bildung, das ist immer ihre Lieblings- lösung. Wenn man die Stundenzahl nur weit genug senkt, ist sicher auch das Abitur nach drei Jahren keine Utopie mehr, und wir dürfen bald den ersten 14-jährigen Gehirnchirurgen begrüßen. Seit Jahren werden auch die Schulnoten in Deutschland immer besser. Wenn man sich die Noten anschaut, dann ertrinkt das Land fast in einer Flut von Uni- versalgenies. An der Spitze steht Berlin. In den wenigen Jahren von 2006 bis 2012 hat sich in Berlin die Zahl der Abiturienten mit dem Notendurchschnitt 1,0 vervierfacht. Wenn das wichtigste Abiturwissen darin besteht, eine Lösung abschreiben zu können, könnte man die Klassen 10 bis 13 streichen Ein Bildungsforscher Hans Peter Klein hat eine Abiturklausur des Leistungsfa- ches Biologie aus Nordrhein-Westfalen, nur so zum Spaß, einer neunten Klas- se vorgelegt. Fast alle haben bestanden, einer mit 1,0. Das gleiche Experiment wurde auch mit einer Mathe-Klausur durchgeführt, mit dem gleichen Ergeb- nis. Hans Peter Klein hat weitergeforscht. Er hat herausgefunden, dass die Lö- sungen der Abituraufgaben neuerdings „dem umfangreichen Arbeitsmaterial entnommen“ werden können, das den Schülern an die Hand gegeben wird. Wenn aber das wichtigste Abiturwissen darin besteht, eine Lösung abschrei- ben zu können, und wenn dieses Wissen nachweislich schon in der neunten Klasse vorhanden ist, dann könnte man doch ohne Weiteres die Klassen 10 bis 13 streichen. Dieses Geld kann man sich sparen. Hans Peter Klein ist noch einem weiteren Phänomen nachgegangen. Auffällig viele Schüler, die in Mathematik eine schlechte Note haben, eine 5 oder 6, wählen für die Präsentationsprüfung im Abitur ausgerechnet ihr Horrorfach Mathe. Der Schüler bekommt eine Aufgabe und hat vier Wochen Zeit, dann muss er die Lösung dieser Aufgabe öffentlich vorführen. Natürlich holen die Schüler sich Hilfe von Mathe-Cracks oder im Internet, wo sich sehr schöne Präsentationen zu den gängigsten Aufgabenstellungen finden lassen. Schüler, die vorher nichts kapiert haben, können plötzlich von ihrem ausgedruckten Papier ablesen, wie es geht. Nicht wenige, die vorher auf „6“ standen, gehen mit einer „2“ aus der Prüfung hinaus, man muss die jungen Menschen also nur in Ruhe im Internet recherchieren lassen. Damit ist bewiesen, dass Lehrer nur schaden. Man kann sie alle entlassen. Das Abitur wird immer einfacher, damit es soziale Gerechtigkeit gibt. Das Ab- itur soll kein Privileg von Besserlernenden oder Besserwissenden mehr sein, fast alle Schüler sollen es bekommen. Weil aber nun einmal nicht alle Men- schen so intelligent, ehrgeizig oder fleißig sind, dass sie ein schwieriges Abitur ablegen können, muss es einfach sein. Da habe ich eine wunderbare Idee zur Bekämpfung der Armut: Die Regierung sollte Geld drucken und jedem Bun- desbürger eine Million Euro in die Hand drücken. Das ist das gleiche Prinzip. Seit Jahren höre ich außerdem, die Ausgaben für Bildung müssten steigen. Ich bin, seit ich die Notenstatistik kenne, gegenteiliger Ansicht. Wieso verlangen die Bildungspolitiker mehr Geld, während gleichzeitig die Schüler auf breiter Front immer besser werden? Wenn immer mehr Schüler immer bessere Schul- abschlüsse bekommen, dann reicht das Geld doch. Andererseits, brauchen wir wirklich so viele Genies? Irgendjemand muss doch auch Straßen bauen und Heizungen reparieren. Ich finde, das größte Sparpotenzial beim Staatshaus- halt befindet sich in den Bildungsetats. Allerdings muss es in Deutschland in jedem Fach immer noch mindestens eine Person geben, welche die Lösungen ins Internet stellt. Das kann zur Not aber auch ein Professor aus den USA machen. Allzu oft sind Noten geschummelt Ein anderes Reformprojekt ist die Abschaffung der Schulnoten. Die frühere Bil- dungsministerin von Schleswig-Holstein, Waltraud Wende, begründete diese Maßnahme in einem Artikel für die ZEIT damit, dass Noten unfair sind. Zitat: „Unterschiedliche Lehrkräfte bewerten dieselbe Leistung nicht zwingend mit derselben Note. Allzu oft sind Noten Glückssache!“ In Wahrheit ist es sogar noch schlimmer. Ich habe jahrelang in Mathematik durch Abschreiben sowie den Einsatz von Spickzetteln eine Note gehabt, die mit meinen tatsächlichen Kenntnissen nicht das Geringste zu tun hatte. Ich kann zählen. Mit den Grundrechenarten kenne ich mich immerhin halbwegs aus. Alles andere habe ich nie begriffen. Trotzdem hatte ich im Abitur eine drei. Allzu oft sind Noten geschummelt. Statt Noten soll es in Zukunft „Kompetenzbeschreibungen“ geben. Die Leh- rer müssen ausführlich Kompetenzen und Defizite jedes Schülers beschreiben. Statt eines Zeugnisses wird also jedem Schüler ein Essayband über sämtliche Facetten seiner Persönlichkeit ausgehändigt. Wenn eine Lehrerin eine Schü- lerin nicht mag, kann sie natürlich Folgendes machen: Sie gibt der Nervensä- ge keine schlechte Note, sondern beschreibt deren Verhalten in ihrem Essay in den düstersten Farben. Waltraud Wende und andere wollen auch dieser Ungerechtigkeit einen Riegel vorschieben. Im Fach Deutsch zum Beispiel soll auch „Zuhören“ bewertet werden. Ein Schüler, der weder lesen noch schreiben kann, immer Kaugummi kaut und niemals ein Wort sagt, findet in seinem Abiturzeugnis dann den Satz: „Ben kann gut zuhören und versteht auch manches.“