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ProPhil_15_02

6 2-2015 Ein bewegtes und bewegendes Jahr Erinnerungen an 1989/90 Dass politisch etwas in der Luft lag, hatte man in den Monaten und Wochen zuvor den zunehmend dramatischeren Bildern entnehmen können, von der Grenzöffnung in Ungarn, der Massenflucht über die bundesdeutsche Botschaft in Prag und den aufwühlenden Montagsdemonstrationen in Leipzig. Dass all das aber schließlich durch eine simple Pressekonferenz in Ostberlin ganz plötzlich so enden würde, konnte niemand erwarten. In Re- gensburg war am 9. November 1989 der Vorstand des Bayerischen Philologenverbandes zusammen- gekommen, um die am Tag darauf beginnende Jahreshauptversammlung vorzubereiten. Die Bil- der, die einige Vorstandsmitglieder zu später Stun- de noch auf ihren Hotelzimmern an den Fernseh- geräten verfolgten und von denen andere erst am nächsten Morgen beim Frühstück erfuhren, konnte man kaum glauben: Tanzende Menschen aus Ost und West auf der Berliner Mauer! Die Sensation war perfekt. Mit Freude mischte sich die bange Frage: Wie wür- de das weitergehen? Drohte ein „roll back“ durch die Hardliner in Moskau und Ostberlin? Wie wür- den sich die Nachbarn Deutschlands verhalten? Bisherige Signale aus Paris und London zu den Vorgängen in der DDR waren ja eher verhalten ge- wesen. Für den am Nachmittag des 10. November beginnenden Delegiertentag schien „business as usual“ daher das Klügste zu sein. Das sah auch der als Festredner eingeladene bayerische Kultus- minister so, der – direkt von Regierungsverhand- lungen in Budapest kommend – einleitend nur we- nige Worte zur aktuellen Lage fand und sich dann streng an das vorgegebene Thema der Hauptver- sammlung hielt: die gemeinsame Bildungsverant- wortung von Hochschule und Gymnasium. Nur ei- nen halben Tag nach dem dramatischen Mauerfall verboten sich voreilige Spekulationen. Und doch ging von dieser Hauptversammlung in Regensburg ein wichtiges Signal zur deutschen Einheit aus: „Lehrer laden Lehrer ein“ hieß die von den Delegierten spontan beschlossene Aktion, die schon wenige Tage später, am 17. November 1989, durch den Bayerischen Philologenverband in die Tat umgesetzt wurde. Gymnasien und deren Lehrkräfte wurden aufgerufen, Kolleginnen und Kollegen aus der DDR einzuladen, um diesen ei- nen persönlichen Eindruck von der Bildungsarbeit im gegliederten Schulwesen zu vermitteln. Die Geschäftsstelle des Verbandes übernahm, soweit erforderlich, die Vermittlung der Kontakte. Durch Berichte in grenznahen Medien, zum Teil sogar auf Flugblättern, die in den Einkaufsmärkten grenz- naher Orte auslagen, wurde die Aktion bekannt gemacht. Auch das offizielle DDR-Organ „Neues Deutschland“ wurde um einen Bericht gebeten. Von dort erfolgte zwar die erwartete Abfuhr, auf- zuhalten war der Informationsdrang der DDR-Kol- legen aber nicht. Und so kam es zu wichtigen Begegnungen und Kontakten, nicht zuletzt dem zwischen der späteren Gründerin des Philologen- verbandes Sachsen, Gudrun Schreiner, und dem Vorsitzenden des Bezirks Oberbayern im BPV Erich Sonnemann. Und es traf sich gut, dass mit dem Jahresbeginn 1990 das Amt des Präsidenten der Arbeitsge- meinschaft Bayerischer Lehrerverbände (ABL) turnusgemäß beim Vorsitzenden des Bayerischen Philologenverbandes lag. So konnten die begon- nenen Initiativen mit anderen Lehrerverbänden im gegliederten Schulwesen abgestimmt werden. Noch im Januar 1990 beschloss das ABL-Präsi- dium, möglichst bald in Coburg für DDR-Lehrer eine Fachtagung zum gegliederten Schulwesen durchzuführen, um so nach der Öffnung der Mauer auch auf eine Öffnung des Bildungswesens hin- zuwirken. Das Echo war überwältigend. Über 70 Kolleginnen und Kollegen aus Brandenburg, Meck- lenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen kamen Ende April als Gäste der ABL nach Coburg. Im Juli aber mussten noch weitere zwei Tagungen durchgeführt werden, im idyllisch gelegenen Wild- bad Kreuth und – bei zauberhaftem Sommerwet- ter – im oberfränkischen Kloster Banz. Die äußerst aktive Rolle des Bezirks Oberfranken im BPV, der hauptsächlich Kontakte nach Thüringen knüpfte, sei an dieser Stelle besonders gewürdigt. Wie wichtig diese Verbindungen waren, bewiesen zahllose Briefe aus dem Kollegenkreis der DDR, Dankschreiben, aber auch dringliche und durch- aus kritische Fragen, etwa zur angeblichen Chan- cenlosigkeit von Arbeiterkindern an Gymnasien und zur Angst, eine Angleichung an das westliche Bildungssystem sei gleichbedeutend mit einem er- barmungslosen Leistungsprinzip, strengster Aus- lese sowie dem Wegfall von Ganztagesbetreuung oder Kinderhorten. Gleichzeitig gab es Hinweise, dass diese Ängste von interessierter Seite im Wes- ten geschürt wurden. Schnell wurde im Präsidium der ABL daher klar, dass nicht nur Einladungen nach Bayern, sondern auch Aktivitäten direkt vor Ort das Gebot der Stunde waren. Eine offizielle Gelegenheit hierzu bot sich durch die Einladung an den Präsidenten der ABL zur Teilnahme an der Wiederbegründung des traditionsreichen Leipzi- ger Lehrervereins am 10. März 1990. Es war eine mit innerer Spannung angetretene erste Fahrt über die innerdeutsche Grenze seit dem Fall der Mauer. Der letzte private Aufenthalt in der DDR lag etwa eineinhalb Jahre zurück, damals auf Einladung der Familie von Brieffreundinnen der eigenen Töchter im sächsischen Vogtland. Erinnerungen wurden wach: der frühe Aufbruch an einem Samstag, um den von den Gastgebern als unbedingt einzuhal- tenden Meldetermin bei der örtlichen Polizei um spätestens 12 Uhr zu schaffen; dann die lange Wartezeit bei der Einreise und der schroffe Ton der Grenzbeamten; die Angst auf der genau vor- geschriebenen Anfahrtsroute irgendeinen Fehler zu machen; die Lösung der Spannung durch die überwältigende Freude und Herzlichkeit der Gast- geber, aber auch ihr auffallender Flüsterton bei Gesprächen in Lokalen; schließlich wieder die fast erniedrigende Fahrzeugdurchsuchung bei der Aus- reise am Sonntag. Welch ein Kontrast nun! Eine freundlich-korrekte Ausweiskontrolle an der zwar noch vorhandenen, aber faktisch nicht mehr exis- tenten Grenze; Beamte, die immer noch dieselben Uniformen trugen, aber gerade deshalb den Ein- druck erweckten, als sei von der alten DDR nur die Hülle geblieben. Dass dem nicht ganz so war, zeigte sich dann bei der Gründungsversammlung in Leipzig. Als erste fielen dort die zahlreichen Flugblätter der westdeutschen Gewerkschaft Erziehung und Wis- senschaft auf, die mit unglaublichen Argumenten davor warnten, für Lehrer in der DDR ebenfalls den Beamtenstatus einzuführen. Beamte, so wörtlich, seien in der Bundesrepublik „Staatsbürger zweiter Ordnung“, für die das demokratische Grundrecht der politischen Betätigung nur eingeschränkt Gül- tigkeit habe. Als Arbeitnehmer ohne Tarifautono- mie seien sie „von der Gnade und Willkür der Ar- beitgeber abhängig“. Den Vogel schoss dann der stellvertretende GEW-Bundesvorsitzende Achim Albrecht in seinem Grußwort mit der Behauptung ab, eine Übertragung des Beamtenstatus auf die Lehrer in der DDR beschwöre „die Gefahr einer Verlängerung der alten SED-STASI-Befehlsstruktu- ren herauf“ und über das gegliederte Schulsystem in der Bundesrepublik Deutschland lache „Europa und die ganze Welt“! Die gebotene klare Zurück- weisung von derlei Unsinn, unterlegt mit Fakten und Zahlen, war kein Problem. Überraschend aber war die Reaktion eines Teils des Publikums. Es kam Unruhe auf, und zwar offensichtlich nicht nur bei alten Kadern der bisherigen Lehrer-Einheits- gewerkschaft GUE, sondern auch unter neutralen Zuhörern. War es der zwischen Berufskollegen ungewohnte politische Streit, der Unbehagen hervorrief? War es die Unsicherheit darüber, wie es nun mit der 62-2015

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