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ProPhil_15_01

231-2015 „Kindheit und Jugend in drei deutschen Staaten“ Zeitgeschichte aus der Feder eines renommierten Kollegen Wolfgang Steinbrecht (Jahrgang 1927; renommierter Englisch- und Rus- sisch-Philologe, langjähriges Vorstandsmitglied des niedersächsischen Philologenverbandes) gehört zur Luftwaffenhelfergeneration. Zu einer Zeit, als sich im Zweiten Weltkrieg die deutsche Niederlage schon ab- zeichnete, wurden drei Jahrgänge als Jugendliche zur Flak einberufen und zum Dienst an den Geschützen eingesetzt. Der Militärdienst schloss sich nahtlos an. Als der Autor aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, war er ganze 18 Jahre alt. Seine Generation hatte ein unglaublich frühes Här- tetraining hinter sich. Und hart ging es weiter. Steinbrecht schildert die Zeit von seinem Geburtsjahr 1927 bis 1955 – die Weimarer Republik, die zum Dritten Reich mutierte, den Zweiten Weltkrieg und die daraus resul- tierenden Besatzungszonen, die sich in die DDR und die Bundesrepublik verwandelten. Als Magdeburger, der schließlich den Sprung in den Wes- ten schaffte, geriet er zwischenzeitlich in eine zweite deutsche Diktatur – diesmal unter Ulbricht. Sein Buch „Kindheit und Jugend in drei deutschen Staaten“ beginnt zunächst ganz konventionell – eine glückliche frühe Kindheit, die Großel- tern, die Eltern. Dunkle Flecken gab es dennoch. Die Folgen der Weltwirt- schaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und bittere Armut blieben auch einem Kind nicht verborgen. Steinbrecht geht den Ursachen nach. Zwei Kapitel über den Versailler Vertrag und die Machtergreifung Hitlers vertiefen das subjektiv Wahrgenommene. Damit ist ein Modell für das Buch entstanden: eine ständige Durchmischung von persönlich Erlebtem und geschichtlichem Hintergrund, teilweise nach Kapiteln getrennt, teilweise innerhalb eines Kapitels. Der schulische Bildungsgang der Luftwaffenhelferjahrgänge war merklich verkürzt. Das bedeutete nicht, dass keine Bildung stattfand. Steinbrecht widmet seinem Bildungsweg eine Reihe von Kapiteln. Das Hervorstechen- de daran ist die Vermittlung bürgerlicher moralischer Normen und klas- sisch-humanistischen Bildungsguts jenseits nationalsozialistischer Dogmen. Eltern und Lehrer zogen an einem Strang. Die wichtigen Kulturgüter wur- den nachhaltig gelehrt, der literari- sche Kanon des Gymnasiums war ideologiefrei. Die nationalsozialis- tische Ideologie blieb an der Ober- fläche. Gegen Kriegsende floss sie wie Tünche ab. Was die verkürzte Schulzeit nicht hergab, vollzog sich auf der privaten Ebene. Im Zentrum des Buches steht der Zweite Weltkrieg. Bei Kriegsbe- ginn war der Autor zwölf Jahre alt, unvorstellbar, dass er noch in das Geschehen einbezogen werden könnte. Aber dann ereilte ihn doch das Schicksal. Steinbrecht lässt den Kriegsverlauf mit allen Etappen und Wendepunk- ten und mit Hintergrundinforma- tionen auf der höchsten Entschei- dungsebene vor den Augen des Lesers entstehen. Seine Luftwaf- fenhelferzeit, der Arbeitsdienst und der Wehrdienst fügen sich in das Geschehen ein. Auch hier gibt die Verflechtung von objektivem Ge- schehen und subjektivem Erleben dem Buch eine besondere Note. Recht spannend geht es nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangen- schaft weiter. Steinbrechts Vater war Zellenleiter in der NSDAP. Unter dem sowjetischen Besatzungsregime wurde er verhaftet und starb im KZ Torgau. Dadurch stand die Familie unter Sippenhaft, völlig mittellos und für die Kinder zunächst ohne berufliche Aufstiegsmöglichkeiten. Es ist anrührend zu lesen, wie sie sich finanziell durchschlugen, wie sie sich in den ersten Hungerjahren Nahrung verschafften und wie er hartnäckig ein Schlupfloch für den sozialen Aufstieg suchte. Als Schlupfloch stellte sich die russische Sprache heraus. Das brachte ihn in große Nähe zur sowjetischen Besat- zungsmacht. Er konnte als Sprachlehrer an einer Dolmetscherschule und als Dolmetscher des russischen Schuloffiziers die frühe Sowjetisierung der „Ostzone“ anschaulich beobachten. Einblick in die Werke von Marx, Engels und Stalin runden diese Phase ab. Die politische Landkarte war um diese Zeit mächtig in Bewegung. Die Ge- meinsamkeit zwischen der Sowjetunion und den Westmächten zerbrach. Die vom Westen ausgehende Währungsreform spaltete Deutschland in einen Ost- und Westteil, die Blockade Westberlins und die Luftbrücke ver- tieften die Spaltung. Steinbrecht schildert, wie sich das aus der Sicht des „kleinen Mannes“ anfühlte und was noch an deutschen Gemeinsamkeiten verblieben war. Nach einem Intermezzo als „Volkslehrer“ in Magdeburg, einem Kabinettstück besonderer Art, und nach einem einjährigen Studium in Halle/Saale landete er schließlich an der Freien Universität in Westberlin, die das Tor zum Westen öffnete. Der Systemvergleich zwischen Ost und West bleibt bis zum Schluss spannend. Für Gymnasiallehrer enthält das Buch eine Reihe von interessanten Aspek- ten. Zunächst ist es, bei aller Bindung an eine einzelne Person, ein Ge- schichtsbuch. Geschichte wird erlebbar gemacht. Das Buch öffnet histori- sche Kammern, die in großflächigeren Darstellungen verschlossen bleiben. Zum zweiten lässt es in den Beschreibungen der elterlichen Erziehung, des Schulunterrichts und anderer Bildungseinflüsse eine Welt entstehen, die heute unwiderruflich vergangen ist. Allerdings nicht ganz spurlos. Die Rechtschreibreform, die wir erlebt haben, lässt sich bis in die Hit- ler-Zeit zurückverfolgen, und die Urzeugung der Gemeinschaftsschu- le fand im kommunistischen Teil Deutschlands statt. Konsequenter- weise ist das Buch denn auch in der „alten“, wie Steinbrecht sagt: „bewährten“ Rechtschreibung, verfasst. Das Buch liest sich flüssig. Stilistisch gehört es eher zur Belletristik als zu Sachbüchern. Je nach Fach ist es auch als Informationsquelle für den Unterricht verwendbar. Sehr lesenswert – für zeitgeschichtlich Interessierte, für Lehrer und auch für Schüler! Josef Kraus, DL Wolfgang Steinbrecht: „Kindheit und Jugend in drei deutschen Staa- ten – Und dazwischen ein Welt- krieg“. 490 Seiten. Verlagshaus Schlosser, Friedberg. ISBN 978-3- 86937-525-0. € 17,90

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