13 1-2016 Sehr geehrter Herr Haubitz, vielleicht erinnern Sie sich: Ich war der Vater, der auf der jüngsten Tagung in Radebeul kriti- sche Anmerkungen zur Belastung von Schülern in Sachsen machte, auf die Frau Ministerin Kurth bedauerlicherweise nicht einging. Mir ist nicht bekannt, wie der sächsische Philolo- genverband und Sie persönlich hierzu stehen. Ich habe nunmehr eine Petition verfasst, die das aus meiner Sicht gravierende Problem schildert und um Unterstützung bittet.Angehängt habe ich darüber hinaus eine Mail an den SMK-Staatsse- kretär sowie weitere Entscheidungsträger in SMK und SBA vom Januar dieses Jahres. Meine Wunsch ist es, dass der Philologenverband hierüber in eine offene Diskussion eintritt. Sie dürfen mir glauben: Viele Eltern sehen es ähnlich wie ich. Für mich befremdlich und zugleich über- raschend: Viele Eltern haben offenbar eine Scheu, man könnte auch von Angst sprechen, ihre Positi- on hierzu offen werden zu lassen. Mit freundlichen Grüßen Martin Döring Auszüge aus seinem Brief Unterrichts- und Hausaufgabenbelastung von Schülern im Freistaat Sachsen Sehr geehrter Herr Staatssekretär, sehr geehrter Herr Belafi, sehr geehrte Damen und Herren im Staatsministerium und in den Regionalstellen der Sächsischen Bildungsagentur, Sie erreicht mit dieser Mail die Anmerkung eines besorgten Vaters, der Vater von drei Töchtern ist. Eine Tochter hat im vergangenen Jahr das Abi- tur abgelegt und studiert. Zwei Töchter besuchen die siebte und die neunte Jahrgangsstufe eines sächsischen Gymnasiums. Mit wachsendem Un- verständnis müssen meine Frau und ich wieder- holt feststellen, dass der lehrplangestützte Unter- richtsstoff Anforderungen stellt, die von Schülern nicht mehr ohne Schaden zu bewältigen sind. Unsere Töchter sind gute bis sehr gute Schülerin- nen, eigeninitiativ, wissbegierig und grundsätz- lich lernfreudig. Sie wachsen in einem offenen und bildungsnahen Klima auf und gehen ihren Interessen in Musik und Theater mit Leidenschaft nach. Aufforderungen zur Hausaufgabenerledi- gung sind bei ihnen entbehrlich. Wir beobachten jedoch, dass der Unterrichtsstoff nur dann zu bewältigen ist, wenn der ohnehin schon knapp bemessene Freiraum genutzt wird, um Hausaufgaben zu erledigen, komplexe Ar- beiten zu erstellen, Referate vorzubereiten. Dies geht erkennbar zu Lasten von Familienleben und jenen Freiräumen, die jugendliche Heranwach- sende benötigen, um soziale Interaktion einzu- üben, Umwege zu gehen, sich auszuprobieren. In dieser Wahrnehmung werden wir gestützt durch Beobachtungen von anderen Eltern, die über psy- chische Auffälligkeiten, Unruhe, Schlafstörungen, Konzentrationsverlust, Schulversagensangst und zunehmend auch über depressive Verstimmungen bei ihren Kindern berichten – und das in einem Besorgnis erregenden Umfang. Wer sich die Lehrpläne im Freistaat Sachsen an- schaut und einen stichprobenartigen Vergleich mit Lehrplänen anderer Bundesländer vornimmt, kommt zu dem Ergebnis, dass Sachsen Spitzenan- forderungen an seine Schüler stellt. Ich will Ihnen ganz undiplomatisch und in aller Offenheit sagen: Diese Lehrplanüberfrachtung, die Schülern am Ende der Sekundarstufe I in me- thodischer und fachlicher Hinsicht Kenntnisse ab- verlangt, die eigentlich in ein akademisches Studi- um gehören, macht die Kinder krank! Es wird mit einem „seelenlosen” Fakten- und Detailwissen nicht nur für den Moment und die nächste Klas- senarbeit gelernt, sondern es wird den Kindern dadurch sozialer und familiärer Freiraum vorent- halten, und besonders schlimm: Es wird die Freu- de am Lernen und die experimentelle Neugier, die Motor menschlicher Entwicklung war und ist, genommen. Das Jugendarbeitsschutzgesetz verlangt eine ju- gendamtliche Zustimmung, wollen unsere Kinder nur 20 Minuten auf der Theaterbühne mitwirken. Weitgehend kritiklos wird hingegen akzeptiert, dass unsere Kinder mit Unterrichtsstunden, Haus- aufgaben, Sonderaktionen und schulischen Vorbe- reitungsaktivitäten auf eine Wochenarbeitszeitbe- lastung von deutlich(!) über 40 Stunden kommen. Erinnern Sie sich noch an die gewerkschaftliche Forderung aus den 50er Jahren der alten Bun- desrepublik: Am Samstag gehört der Papi mir! Angesichts der aktuellen Verhältnisse ein frommer Wunsch, nicht weil der Papi heute am Samstag ar- beitet, sondern sein Kind arbeiten muss. Viele Lehrer erwarten, dass die unterrichtsfreie Zeit in den Ferien genutzt wird, um beispiels- weise Referate vorzubereiten („Ihr hattet doch Zeit genug.“). Unsere Kinder haben schon ohne Hausaufgaben einen sieben- bis achtstündigen „Arbeitstag“ ohne Sonderaufgaben, da ist es geradezu unvermeidlich, das Wochenende auch dann zu nutzen, wenn von Freitag auf Montag keine Hausaufgaben erteilt wurden. Im Arbeits- leben von uns Erwachsenen wird gerne von Work-Life-Balance gesprochen. Schüler haben heutzutage nur eingeschränkt hierzu die Möglich- keit. Zu umfassend gebildeten Schülern gehört eben auch die Möglichkeit, sich auszuprobieren, Umwege zu gehen. Wann sollen sie das machen? Wenn sie Berufsanfänger sind und sich das erste Kind vielleicht schon ankündigt? Es bleibt im Ergebnis: Die sächsische Schulpo- litik orientiert sich an einer stillschweigend akzep- tierten Ökonomisierung der Lehrpläne („Wir bil- den Schüler, die später im Beruf erfolgreich sein können”). Hier fällt mir ein Diktum des vormali- gen Richters am Bundesverfassungsgericht, Udo di Fabio, ein, der da sinngemäß sagte: Wir erleben einen Bedeutungsverlust der intermediären Kräfte und einen Bedeutungszuwachs der Zweckrationa- lismen bürokratischer und wirtschaftlicher Denk- weisen. Diese Zweckrationalismen haben etwas Selbstimmunisierendes, Selbstreferentielles. Also: Die Zusammenhänge und Grundbedürfnisse, der „Sitz im Leben“, werden nicht mehr erkannt, die Inselverantwortlichen verabsolutieren ihren Ver- antwortungsbereich. Das erklärt auch die sprach- lich geradezu aufgeblasenen Lehrpläne bereits für die Sekundarstufe I, die sich eher wie die Rah- menanweisung für ein universitäres Proseminar lesen, als dass sie den konkreten Lebens- und Er- fahrungshorizont von zwölf- bis vierzehnjährigen Kindern zum Bezugspunkt machen. In einem Leserbrief hatte ich bereits im vergan- genen Jahr meiner Befürchtung Ausdruck verlie- hen, dass die schleichende Ökonomisierung von Bildungsplänen nicht mehr einem universalen Bil- dungsanspruch und seiner Selbstzweckhaftigkeit Rechnung trägt, sondern den Anforderungen von Wirtschaft und Verwertbarkeit. Spitz formuliert: Nehmen Sie als Bildungsver- antwortliche die Warnrufe von Jugend- und Kin- derpsychiatrie zur Kenntnis, die von einer Dauer- überforderung von Schülern ausgehen? Meine Frau und ich sind leistungsorientiert, un- sere Bildungsgänge sind akademisch geprägt, wir sind keine Querulanten, keine notorischen Besserwisser, wir können es auch einmal hinneh- men – Irren ist menschlich –, dass unsere Kinder nach unseren Maßstäben ungerecht behandelt werden, wir kämpfen nicht um eine 2 statt einer 3. Wofür wir kämpfen, das sind unsere Kinder! Und hier greift unsere verfassungsrechtlich garan- tierte elterliche Fürsorge- und Erziehungspflicht und die anderer Eltern. Wir können es nicht mehr hinnehmen, dass aufgeblasene Lehrpläne Wis- sensfortschritt, Neugier, Persönlichkeitsentwick- lung und Experimentierlust zerstören und zugleich noch die Kinder ihren Eltern entziehen. Bei allem Respekt vor staatlicher Bildungsplanung und ver- fassungsrechtlicher Schulpflicht: Unsere Kinder lassen wir uns nicht nehmen. Pflege und Erziehung sind die uns als Eltern zuvörderst obliegende Pflicht (Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz). Diesem höchsten normativen Auftrag können wir jedoch nur ge- recht werden, wenn uns die staatliche Bildungs- planung hierzu die nötigen Freiräume lässt. Wir haben einen Anspruch darauf. Kommen Sie mit der Elternschaft ins Gespräch! Formale demokratische Beteiligungsformen wie aktuell zur Novellierung des sächsischen Schulge- setzes sind wünschenswert, benötigen jedoch in der Kultus- und Bildungsverwaltung aufmerksa- me und lernbereite Zuhörer. Mir ist bewusst, dass viele von Ihnen beim Lesen dieser Anmerkungen spontan eine reservierte bis ablehnende Haltung einnehmen werden. Ich kann das verstehen, darf Sie dennoch bitten, über mei- ne Kritikpunkte nachzudenken, sind sie doch nicht Ausdruck spontanen Unmutes, sondern eines er- fahrungsgesättigten Blicks auf die Realitäten. Mit freundlichen Grüßen Martin Döring